Die Schweiz, oft gepriesen als Hort von Stabilität und Wohlstand, steht an einem Scheideweg. Während schneebedeckte Gipfel und saftige Wiesen das Bild einer intakten Natur zeichnen, rumort es unter der Oberfläche. Die Klimakrise, schwindende Ressourcen und soziale Ungleichheiten werfen lange Schatten auf das helvetische Idyll. Wie steht es um die Nachhaltigkeit der Schweizer Wirtschaft? Sind wir auf dem richtigen Weg oder tappen wir im Dunkeln?
Die kürzlich von der Mobiliar und BAK Economics AG veröffentlichte Studie «Swiss Sustainability Gap 2024» liefert ernüchternde Erkenntnisse. Deren Zahlen zeigen: Obwohl Nachhaltigkeit in aller Munde ist, klafft eine beträchtliche Lücke zwischen Anspruch und Wirklichkeit. Gerade kleine und mittlere Unternehmen (KMU), das Rückgrat der Schweizer Wirtschaft, kämpfen mit der Umsetzung. Es fehlt an Ressourcen, an Know-how und oft auch an der Einsicht, dass Nachhaltigkeit nicht nur ein Kostenfaktor, sondern ein entscheidender Erfolgsfaktor für die Zukunft sein kann. Die Studie zeigt ein paradoxes Bild. Strategisch haben viele Unternehmen die Bedeutung von Nachhaltigkeit erkannt, doch die operative Umsetzung hinkt hinterher. Es scheint, als ob man zwar das Ziel im Blick hat, aber der Weg dorthin noch im Nebel liegt. Besonders eklatant ist die Diskrepanz bei ökologischen Aspekten. Während soziale Nachhaltigkeit, getrieben durch den Fachkräftemangel, zunehmend an Bedeutung gewinnt, bleibt der schonende Umgang mit Ressourcen und die Reduktion von Emissionen oft auf der Strecke. Die Gründe dafür sind vielfältig. Unter anderem sehen sich KMU mit einer Vielzahl von Herausforderungen konfrontiert: Digitalisierung, Fachkräftemangel, Inflation. Nachhaltigkeit, so scheint es, ist da nur eine Baustelle von vielen. Zudem fehlt es oft an Strukturen und Governance-Mechanismen, um Nachhaltigkeit systematisch im Unternehmen zu verankern.
Doch es gibt auch Lichtblicke. Immer mehr Unternehmen erkennen, dass Nachhaltigkeit und wirtschaftlicher Erfolg kein Widerspruch sein müssen. Gute Arbeitsbedingungen, Diversität und ein schonender Umgang mit Ressourcen können sich positiv auf Produktivität und Innovation auswirken. Auf dem Sustainable Switzerland Forum zeigt Swisscom, wie datenbasiertes Nachhaltigkeitsmanagement helfen kann, Emissionen zu reduzieren und neue Geschäftsfelder zu erschliessen. Ein Beispiel in der Textilindustrie ist VAUDE mit dem Green-Shape-Konzept, einer Kreislaufwirtschaft unter dem Motto «Repair, don’t replace», das Kundinnen und Kunden ermutigt, Produkte zu reparieren oder sie sogar zu leihen, statt zu kaufen. «Können wir uns Nachhaltigkeit leisten? Die Frage muss lauten: Können wir uns leisten, nicht nachhaltig zu sein?», fragt die CEO von VAUDE Antje von Dewitz als Speakerin des Forums und gibt auch gleich die Antwort. Nein, können wir nicht, auch wenn der Weg zu nachhaltigen Strategien mühsam und kostspielig ist.
Auch die Politik ist gefordert
Während die Schweiz nicht unstrittige Ziele formuliert hat, etwa die Klimaneutralität bis 2050, bleibt die Umsetzung oft vage und hinter den Erwartungen zurück. Hinzu kommt, dass die zunehmende ESG-Regulierung vielfach als wenig konkret wahrgenommen wird. Selbst wenn diese zunächst vor allem grössere Unternehmen betrifft, wird sie auch KMU vor neue Herausforderungen stellen. Es bedarf daher klarer Rahmenbedingungen und gezielter Anreize, um nicht nur Unternehmen, sondern die gesamte Wirtschaft auf den Pfad der Nachhaltigkeit zu führen.
Das gilt insbesondere in Hinblick auf die Schweizer Energiepolitik. Die jüngsten Ankündigungen des Bundesrats zur Aufhebung des Technologieverbots, das bislang den Bau neuer Atomkraftwerke verhinderte, signalisieren eine pragmatische Herangehensweise an die Energieversorgung. Angesichts der drohenden Stromlücke und der Klimaziele ist es wichtig, alle Optionen, einschliesslich der Kernkraft, zu prüfen. So kann etwa die Kernkraft gerade im Winter einen Beitrag zur Versorgungssicherheit leisten. Diese Entscheidung setzt die Gegner der Kernenergie unter Druck, den Ausbau von Wind- und Sonnenenergie zu unterstützen; blockieren sie den Ausbau erneuerbarer Energien weiterhin, könnte die Kernenergie als Alternative an Bedeutung gewinnen. Die Aufhebung des Technologieverbots ist daher wohl ein Appell zur Kooperation, um die Energiewende voranzutreiben. Damit gehen aber andere Herausforderungen einher. Der Bau neuer Atomkraftwerke ist teuer und mit Risiken verbunden. Finanzierung und politische Akzeptanz sind entscheidend. Es ist zwar unwahrscheinlich, dass in naher Zukunft neue Atomkraftwerke gebaut werden, aber die Option bleibt offen, falls der Ausbau erneuerbarer Energien nicht schnell genug vorankommt. Die aktuelle Entwicklung zeigt einen Balanceakt zwischen erneuerbaren Energien und Kernkraft.
Die Zukunft der Schweizer Energieversorgung hängt aber nicht nur von der Politik ab, sondern von einer konstruktiven Zusammenarbeit aller in einer Demokratie, etwa im Sinne sogenannter Deliberationsforen.
Deliberative Demokratie
So, wie es Bundespräsident a. D. Joachim Gauck Mitte Juni dieses Jahres auf der Mitgliederversammlung der Handelskammer Deutschland-Schweiz tiefgründig und klar auf den Punkt brachte, tat es auf dem Forum auch Philipp Blom, Historiker und Autor. Der solide Fels der Demokratie müsse stabil bleiben, Gefahren einer Erosion, die von wachsender Ungleichheit, technologischem Fortschritt und Globalisierung ausgehen, gelte es angemessen zu begegnen. Bloms eindringliche Worte betonten die Notwendigkeit einer wehrhaften Demokratie, sei es in Deutschland, der Schweiz oder weltweit. Seine Botschaft, «Was wir erleben, ist scheinbar nicht das Ende der Geschichte, sondern das Ende einer sinnvollen Zukunft», zitiert in der Summary des Sustainable Switzerland Forums, wird uns noch lange begleiten. Er argumentiert, dass eine Gesellschaft ohne eine gemeinsame Geschichte und eine gemeinsame Vision zerbrechen wird.
Angesichts oft polarisierter Debatten, wie die um eine zukunftsgesicherte Energiepolitik in der Schweiz, bietet eine Deliberation einen Ausweg, indem sie Raum für eine vielschichtige Diskussion jenseits vorgefasster Meinungen schafft: Deliberation ist eine Methode, die eine diverse Bürgerschaft in den Diskurs einlädt und ein tieferes Verständnis der gemeinschaftlichen Präferenzen fördert. Weitsichtiges Handeln bedingt die Bereitschaft der Menschen, zuzuhören, dazuzulernen und den anderen Raum für überzeugende Argumente zu geben, gerade in einer Demokratie. Die Deliberation bringt Bürgerinnen und Bürger zusammen. Dadurch können sie sich intensiv und informiert über ein Thema austauschen und so fundierte und gemeinsame Lösungen finden. In der Schweiz wurden bereits solche Deliberationsforen durchgeführt, beispielsweise in Sion, wo man sich mit dem Thema bezahlbarer Wohnraum beschäftigte. Es folgten Projekte im Kanton Genf (Forum citoyen de Genève, begleitet vom Forschungsprojekt Demoscan Genève), in Lausanne (Rencontres citoyennes d’Entre-Bois) und schliesslich auch in der italienisch- und deutschsprachigen Schweiz – etwa in Bellinzona, Winterthur oder dem Kanton Aargau, nachzulesen in «Mit einem Zukunftsrat gegen die Klimakrise» (2023, hrsg. von Seneviratne, Zimmermann, Notter & Spillmann).
Was Unternehmen beitragen können
Die Frage, wann die Schweizer Wirtschaft fossilfrei sein wird, bleibt vorerst unbeantwortet. Die Skepsis vieler Unternehmen ist gross, und nur wenige haben konkrete Pläne zur Erreichung des Netto-Null-Ziels. Doch gerade hier liegt eine Chance: Unternehmen, die jetzt handeln und sich als Vorreiter positionieren, können nicht nur einen Beitrag zum Gemeinwohl leisten, sondern auch ihre eigene Zukunftsfähigkeit sichern.
Es ist Zeit für einen gewissen «radikalen Universalismus» in der Schweizer Wirtschaft – das bedeutet, dass Nachhaltigkeit konsequent und ohne Abstriche in alle Unternehmensprozesse integriert wird. Dieser Ansatz verlangt tiefgreifende Veränderungen, um Nachhaltigkeit als zentralen Erfolgsfaktor zu verankern. Für Unternehmen heisst das, dass ethisches Handeln und wirtschaftlicher Erfolg nicht im Widerspruch stehen, sondern Hand in Hand gehen müssen, um langfristig wettbewerbsfähig und gesellschaftlich verantwortungsvoll zu bleiben.
Es geht nicht darum, den Profit abzuschaffen. Immanuel Kant formulierte es so: «Alles hat entweder einen Preis oder eine Würde.» Eine nachhaltige Wirtschaft respektiert diese Würde, indem sie nicht nur Profite maximiert, sondern auch die Bedürfnisse gegenwärtiger und zukünftiger Generationen berücksichtigt und die natürlichen Ressourcen schützt.
Eine Vision für 2050: Wohlstand und Nachhaltigkeit vereint
Stellen Sie sich vor, Sie stehen auf einem Berggipfel und blicken über eine Schweiz, in der wirtschaftlicher Erfolg und intakte Natur allgegenwärtig sind. Windräder drehen sich langsam, Solarpaneele glitzern in der Sonne. Unten pulsiert eine Stadt, wo Elektrobusse leise durch staufreie Strassen gleiten. Die Gebäude sind eine Mischung aus sorgsam restaurierten Altbauten und modernen, energieeffizienten Neubauten, begrünt und smart ausgestattet.
Im Herzen der Stadt liegt ein naturnah angelegter Park. Familien picknicken, Kinder spielen, ältere Menschen entspannen sich. Ein Ort der Begegnung, der Erholung und ein lebendiges Beispiel für (Bio-)Diversität.
Weiter geht es in ein Bergdorf, wo Holzhäuser sich in die Landschaft fügen und ein Wasserrad sich dreht. Hier, wo Biogas seit geraumer Zeit als rentabel und fortschrittlich verstanden wird, erreicht die Bevölkerung das Netto-Null-Ziel, erzeugt Strom, baut Gemüse an und teilt Ressourcen.
Diese Vision ist keine Utopie, sondern ein erreichbares Ziel. Eine Schweiz, die ihre Natur schützt, lebenswerte Städte schafft, und in der Wirtschaft und Ökologie voneinander profitieren.
Das Sustainable Switzerland Forum der NZZ stellt sich der Herausforderung, Nachhaltigkeit in der Schweiz voranzutreiben. Es bietet eine Plattform für den Austausch zwischen Führungskräften, Fachleuten und Innovator*innen, um gemeinsam Lösungen für die drängenden ökologischen und sozialen Fragen unserer Zeit zu entwickeln. Das Themenspektrum ist breit und reicht von Mobilität und Energie über Biodiversität bis hin zu nachhaltiger Unternehmensführung.